Peter Wehinger über Versuche an Incident zu verstehen
(2023)
entschuldige bitte, hab? gerade erst Deinen Text über Lu Xuns Erzählung so richtig realisiert. Gefällt mir sehr gut! Kenne Lu Xuns Erzählung nicht aus eigener Lektüre. Versuche, mich im folgenden bei meinen Gedanken dazu einigermaßen an Deine Interpretation zu halten.
Der üblicherweise quasi-deterministische und starre Ablauf einer klassengesellschaftlich strukturierten und hierarchisierten Alltagsroutine (hier: der dienstleistungsförmige Alltagsvorgang einer Rikscha-Fahrt) wird durch einen unvorhergesehenen Vorfall (hier: Kollision mit einer Passantin) gestört und unterbrochen. Aufgrund dieser Störung tritt die gedankenlose, blinde und automatisierte Routine des Alltagsvorgangs des herrschaftlichen Transportiertwerdens zurück; die – bei ungestörtem Ablauf – hinter der starren sozialen Routine verborgene unmittelbare Gegenwart des Menschen tritt hervor und der Fokus richtet sich auf sie und die Bedrohtheit des Menschen (hier: die angefahrene Passantin) in der versteinerten sozialen Welt. In der herrschenden Klasse (hier: der Rikscha-Passagier) wird ein Reflexionsprozeß in Gang gesetzt, welcher ihr ihre ?Unstimmigkeit mit der Umwelt? und die zu überwindende Falschheit und Desolatheit ihrer Herrschaftsordnung, gleichzeitig jedoch auch deren Unüberwindbarkeit für die herrschende Klasse selbst vor Augen führt (Bemerkung: Auch aus marxistischer Sicht kann die Umwälzung der herrschenden Verhältnisse i.a. nur ?von unten?, nicht aber von der jeweils herrschenden Klasse selbst, erfolgen).
Ein Bruch der herrschenden, versteinerten sozialen Routinen und Institutionen vermag Freiräume des Denkens und Handelns eröffnen. Formen derartigen Denkens und Handelns werden nach meinem Verständnis Deines Textes in der Ausstellung thematisiert.
Anmerken möchte ich folgendes: Erstens scheint nach meinem Verständnis Deiner Interpretation der Lu Xunschen Erzählung Lu Xun selbst zum Ausdruck bringen zu wollen, dass allfällige Reflexionsprozesse der herrschenden Klasse im bloß Ideellen verbleiben und sich nicht zu ?antiherrschaftlichem? realem Handeln realisieren/materialisieren vermögen (Aber, wie gesagt: Ich habe Lu Xuns Erzählung nicht gelesen). Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass in Lu Xuns Erzählung die Reflexionsprozesse, welche die herrschende Klasse (hier: der Rikscha-Passagier) ? zumindest auf ideeller Ebene – aus seiner versteinerten Alltagsroutine herausreißen, von einer realen massiven Erschütterung eines gewaltförmigen (Unfall-) Ereignisses (Kollision mit einer Passantin) ausgelöst werden.
Nach Lu Xun scheint also die herrschende Klasse die Reflexion nicht zur entsprechenden (gesellschaftsverändernden) Tat überführen zu vermögen (was ja auch nicht verwunderlich ist, da ja eine derartige Tat der herrschenden Klasse ihre eigene Dominanz untergraben würde). Die Reflexion muss demnach die beherrschte Klasse ergreifen, damit sie ?zur materiellen Gewalt? (Marx), d.h.: real wirkmächtig, werden kann. Ein Subjekt der Geschichte, welches die versteinerten Institutionen real zu verändern in der Lage ist, kann daher nur die beherrschte Klasse sein. Ferner verschärfe ich meine zweite Anmerkung dahingehend, dass nur gewaltförmige soziale Ereignisse die herrschende Klasse aus ihren alltäglichen sozialen Herrschaftsroutinen herauszureißen vermögen, sie in eine gewisse Distanz zu ihnen bringen kann und ferner nehme ich der Einfachheit halber an, dass diese gewaltförmigen sozialen Ereignisse revolutionäre Ereignisse sind. Dann halte ich als kleines Fazit fest: Nur revolutionäre Gewalt seitens der unterdrückten Klasse kann die versteinerten und repressiven sozialen Routinen einer Klassengesellschaft durchbrechen.
Mein kleines Fazit verdankt sich natürlich einer ziemlichen gewaltsamen Rekonstruktion meinerseits und vor allem siecht es schwer daran, dass ich Lu Xuns Text ja gar nicht gelesen habe. Somit möchte ich es keineswegs Lu Xun unterstellen.
So, jetzt hör? ich aber auf.
Peter Wehinger
Countermeasure
(2023)
„ Vieles ist gewiß überholt. Mir ist durchaus bewußt. Daß ich sowohl im Verhältnis zu den Dingen, für die ich mich interessiere, als auch zu dem, was ich bisher gedacht habe meine Position verschiebe. Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind, Erfahrungen im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus der man verändert hervor geht. *
Der Eindringling im Staatskünstlerinnenbau Franz Amann und Anna Hofbauer, die dort Einsitzende, zeigen Formen zwischen (Ver)Bau, (Ver)messung, Verteidigung, Angriff, Aufbau, Umformung und Reparatur.
Sie nehmen den Raum als ein Gewebe möglicher Erfahrungen wahr.
Erfahrungen zielen darauf ab, eine Bewegung im Subjekt in Gang zu bringen, um es von sich selbst loszureißen.
Risse erschaffen neue Räume, ermöglichen es, Grenzen zu erfahren oder zu überwinden
Was passiert durch die gemeinsame Adaption (Gestaltung und Umbau von Hofbauers Atelier) zum Ausstellungsraum?
Um in der Situation des Gegenübers gestaltfähig zu bleiben gilt es, diese Freiräume zu entdecken, die sich auch erst durch die gegenseitige Destabilisierung auftun können.
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* Michel Foucault: Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Gespräch mit Ducio Trombadori, 1978
Lisa Berger Franz Amann
Countermeasure engl.
(2023)
„Many things have certainly been surpassed. I‘m perfectly aware of having continuously made shifts both in the things that have interested me and in what I have already thought. In addition, the books I write, constitute an experience for me that I‘d like to be as rich as possible. An experience is something you come out of changed.*
The intruder in the State Artists‘ Building Franz Amann and Anna Hofbauer, the resident there, show forms between (re)construction, (re)measurement, defense, attack, construction, transformation and repair.
They perceive space as a web of possible experiences.
Experiences aim to initiate a movement in the subject to tear it away from itself.
Cracks create new spaces, make it possible to experience orovercome limits.
What happens as ar esult of the joint adaptation(design and conversion of Hofbauer‘s studio) into an exhibition space?
In order to remain capable of shaping in a counterpart‘s situation, it is necessary to discover these free spaces, which can also only open upthrough mutual destabilization.
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* Michel Foucault: Remarks on Marx, conversations
Lisa Berger Franz Amann
Versuche an Incident zu verstehen
(2023)
„..The military and political affairs of those years I have forgotten as completely as the classics I read in my childhood. Yet this incident keeps coming back to me, often more vivid than in actual life, teaching me shame, urging me to reform, and giving me fresh courage and hope.“ (in: An Incident (1920), Selected Stories of Lu Hsun, published 1960, dt. Übersetzung: Eine unbedeutende Begebenheit)
Die Ausstellung „Countermeasure“ entzündete sich an Lu Xun`s Erzählung „An Incident“ (1881 – 1936): Ein Rikschakuli kollidiert mit einer Passantin. Der Passagier (Erzähler) der Rikscha verfängt sich daraufhin in Selbstreflexion. Der quasi mechanische Vorgang des Transportiert-Werdens erfährt eine Störung, denn der Rikscha Fahrer widmet sich der scheinbar unverletzten Person und läßt den Fahrgast alleine recht ratlos zurück. Offensichtlich handelt es sich um ein Bruch in der eingespielten Kontinuität von passiver Hierarchie, der Anwesenheit von Klassengesellschaft. Diese Situation entzieht dem Fahrgast jegliche Sicherheit einer Gesellschaft, die sich ändern wird. (Mao hat die gezogenen Rikschas verboten, sie wurden durch Fahrradtaxis ersetzt). Was kann man also von dieser Geschichte, die in Beijing im Jahre 1917 spielt in das 21. Jhdt hinüberretten.
Eine „unbedeutende Begebenheit“, so die deutsche Übersetzung ist natürlich alles andere wie unbedeutsam, denn in dem Moment, als der Passagier gewahr wird seiner eigenen Unstimmigkeit mit der Umwelt, passiert nichts anderes als ein Aufbruch an Überlegungen oder anders formuliert: Die ganze miserable Welt wird manifest, bricht ein in die Realität einer alltäglichen Szene. Es ist nichts in Ordnung und alles gehört geändert und trotzdem herrscht die Immanenz, die Unmöglichkeit des Verlassens eines Ortes und eines Zustandes.
Die aktuelle Form der extremen Eindringlichkeit der Gesellschaft in der Präsenz der digitalen Maschine ist evident. Die Unüberbrückbarkeit von Klassen und zwischen Menschen und die Verfestigung von Teilen dieses starren Gebildes formiert einen undurchdringbaren Stern oder Kristall. Innehalten und Selbstreflexion würde uns allen in unseren Bestrebungen nicht nur gut tun sondern wäre eine Methode innere Erschütterungen und Verunsicherungen zu erzeugen, um dabei offene Situationen zu produzieren bzw. Möglichkeiten und Freiräume zu generieren. Eine Frage drängt sich zum Verständnis dieser sozialen Realität auf. Kann das eigene Nachdenken und Grübeln über die (eigene und gemeinsame) Befindlichkeiten hinauskommen und zu einer größeren strukturelleren Tragweite führen? In der Pädagogik gibt es den Begriff des selbstreflexiv Analytischen und wir finden das eine interessante Begrifflichkeit, das heißt, dass im komplexen zwischenmenschlichem Agieren immer schon die ganze Welt präsent ist und hineinwirkt, wissend darum, dass, um in der Situation des Gegenübers gestaltfähig zu bleiben, das gesellschaftliche Konstukt mitgedacht und zerpflückt werden muss. Das heisst aber auch, dass nur ein offenes System so etwas gewährleisten kann, weil es keine Erschöpfung erfährt. Verstehen und soziale Interaktion sind hier in dem pädagog. Modell eng beieinander. Die Definition von „ An Incident“ wäre dann: ein Vorfall, der Betroffene herausschleudert und zu einem Blackout bzw. an ein Ende ihrer Möglichkeiten führt und sie rausfallen läßt. „Scham, Wille zur Veränderung und frischen Mut und Hoffnung“ bezeichnen etwa chronologisch die Selbstreflexion, das körperliche Zusammenraffen und das Lernpotential nach solch einer Atempause innerer Erschütterung und ist in der Intensität als gespeicherte Erfahrung abrufbar.
Die Ausstellung beinhaltet Formen, wenn man so will, die in diesen Freiräumen des Denkens und Agierens stattfinden. Formen, in denen aktuell die vom Menschen stark transformierte Welt ebenso einbricht und Erschütterungen hinterläßt. Kunst als Resultat der Klassengesellschaft und als Komplize des Kapitals bescheren der Künstlerin eine fast unlösbare Aufgabe. Diese Brüche, auch broken relations genannt, sind geleitet entlang von sozialen, ökonomischen, ökolog. Dimensionen. Dies zu Verändern (die Welt und die Gewißheit der Zusammenhänge) ist Arbeit an den Infrastrukturen und an der Kunst selber. Was wir brauchen sind tatsächliche Veränderungen und keine Utopien. Wunschdenken ist zu vernachlässigen zugunsten der Beobachtung der Wirklichkeit.
There is a crack in everything (2018)
Ich fange den Geist einer unschönen Zeit ein. Es wird wieder dunkler. Die Selbstzerfleischung der Gesellschaft, die Rückkehr zu protofaschistischen Staaten, die Präsenz autoritär konservativer Strömungen und gleichzeitig die Möglichkeiten uferloser Kommunikation verändert auch die Zirkulationen innerhalb des Produktionsraumes der Malerin. Dieses Zittern des Raumes, in dem man sich bewegt, ist wohl spürbar. Die Führung des Pinsels, der Farbauftrag scheint erheblich gestört oder in einer ständigen Ablenkung begriffen zu sein. Der Erdenschwere zu entkommen, nach Nietzsche der Zustand der erleichterten Seele, scheints ist unmöglich und gleichzeitig ist da ein unsichtbarer Gerichtshof, der waltet, verurteilt, zuordnet und einteilt in Klassen über Generationen. Die Malerei findet statt zwischen Auf und Abwärtsbewegungen oder Bewegungen am Boden bzw. am Untergrund entlang, welche stets verwoben sind mit dem Flecht und Regelwerk der Gesellschaft. Das ist die Möglichkeit von Kunst: Aus allen Schwierigkeiten und Gemeinheiten heraus Kristalle herzustellen, die das ganze Netzwerk der Störungen und Durchquerungen des herrschenden digitalen und politischen Raumes inkorporieren und festhalten (in irgendeiner Form zu irgendeinem Zeitpunkt) und herausschleudern. Das Resultat wäre dann freies furchtloses Schweben. Wobei mir Schwirren besser passen würde als Schweben, weil mit diesem Wort eine Durchdringung von Welt gezeigt und eine Auflösung der Umwelt suggeriert wird, aber eben keine Distanz zum Tumult geschweige denn frei und furchtlos.
Der Kakapo spricht: „Ich bin der schwerste Papagei, beinahe wäre ich ausgestorben, ich hatte Jahrtausende keine Feinde. Ich hab aufgehört zu fliegen, es war nicht notwendig, denn mein Leben war sowieso im Zustand des freien furchtlosen Schwebens über alle Gesetze und Urteile.“
Franz Amann ist ein Zustand in der Welt (2015)
Wenn Franz Amanns Werke eine Gesellschaft sind, und wer würde das bestreiten, um welche Art von Gesellschaft handelt es sich? Und für uns Eingeladene wichtiger noch: wie nimmt man daran Teil? Es muss sich um eine gro.zügige Gesellschaft handeln denn sie mutet mir zu, im Namen dieser Werke zu sprechen, ihnen gerecht zu werden – mehr noch zu sprechen im Namen der kleinsten Teile, im Namen des Materials.
Mit den Werken No.1 bis No.5 richtet Franz Amann seiner Art von Malerei ein Fest aus, maßgeschneidert für den nicht nur halluzinierten Körper seiner Unbeirrbarkeit. Mit Wucht und Verve müssen diese Werke entstanden sein, muss in deren Mitte der Maler selbst wiedermal erstanden sein – auf allen vieren, halb gebückt, aufrecht manchmal schwebend leicht. Material zum Sprechen bringen, versuchen Sie es: es gilt eine Mischung aus passivem Zulassen und impulsiv wendigem Agieren zu finden. Beizeiten gilt es sich auf die Couch zu legen und zu warten. So ereignen sich nebeneinander und zugleich die Erfahrungen des Groben und Verworrenen und aber auch des Klaren, Nächsten und Vertrauten. Man spricht von äußeren wie inneren Vorgängen und meint das bloße Material das nur hier – im Versuch darüber zu schreiben – in Ideen gepresst wird, Begriffe gepresst wird: Intimität, Exotik, Geheul. Franz Amann lehrt uns die beizeiten Angemessenheit einer Furchtlosigkeit. Bei Zeiten wie diesen, so sage ich mir.
Und so lass ich mich erheben zur Instanz, ein hartnäckiges Drängen – und schreibe wie sehr ich staune angesichts der Erweiterung dieser ansteckenden Malereien: eine Art Negativ-Form aus Metall löst Gedankensprünge, Verwirrung und erheiternde Unterstellungen aus. Ist es die Form an sich? Die Idee oder das Wesen dessen was man bei Amann wohl die Signatur nennen sollte? Ist es der Charakter, die Natur oder einfach: das Ding? Ich spüre eine Gelassenheit, eine ausbalancierte Mitte und eine Art Gleichgültigkeit, vermeintliche Abwesenheit von…Impuls, Gebrüll, Heulen. Ist sie hier tatsächlich geäußert: die Idee als singuläre Erscheinung? Ich zweifle und sehe: rohes Material. Ein Idol? Das Metallteil heisst: No.0 (In Worten: Null) und wird dadurch angehängt an die Reihe der Werke No.1 bis No.5. Es gilt also wohl auch hier wie dort zu sehen: die Wirkung der Lebendigkeit, Hitzigkeit und Dichte, das Strahlen und auch die Erdigkeit der Amann‘schen Malerei. Verzerrungen, Übersteuerungen, beizeiten Kurzschlüsse – als säßen wir gemeinsam alle in einer Fähre am Bosporus und starrten an die Decke und sähen: ins Auge der Welt, einer geborgten Welt in einer geborgten Zeit in unserem geborgten Körper der zittert wie ein lauerndes Tier. Und was hier abfällt noch, blasser werdend, das Wort: Mensch. Insan. Geborgt.
Ich unterdrücke meine Fantasien, den Terror mysteriöser Sehnsüchte, irgendwer hatte gemeint im Falle einer solchen Unterdrückung bleiben Worte – Worte wie Symptome. Gustave Flaubert hatte in einem Brief die Befürchtung geschrieben, das Symptom also geschrieben:
Zu denken (…) daß ich vielleicht niemals in den Wäldern die Augen eines Tigers werde leuchten sehen, der im Bambus kauert.
Thomas Mann übernimmt diese Ahnung, diese Fantasie und lässt sie seinen Helden Aschenbach halluzinieren – lässt ihn damit und dadurch aufbrechen seinen Sehnsüchten zu folgen und seinen Tod in Venedig finden. Howl nennt Franz Amann diese seine aktuelle Ausstellung, in dem Fall ist der Name ein Geräusch. Wenn Amanns Kunst archaisch ist, dann offenbart sie, dass Ursprung im Heute zu suchen ist, mehr als in der Vergangenheit (entspannen Sie sich: das Morgen weiß nicht mal, dass sie da sind). Zwischen den eine Gesellschaft ausmachenden Individuen gilt es den Raum so zu bevölkern, dass Versuche ausgehalten werden all unsere überbordenden Fantasien nicht mit Gewalt zu befrieden. Lassen wir einander unbeschadet aber nicht unberührt. Ich sehe Tiergesichter ich sehe Klauen und Schalentiere die ihren Panzer ablegen um sich zu paaren. Höre Idole. Wie gelingt es die Finger frei zu bekommen – auf allen vieren? Genug. Ich sehe Sonni Blechdach auf einem blauen Teppich, der wirds euch zeigen. Ich ziehe mich zurück in die glorreiche Wildnis unserer schlammigen Wirklichkeit. Hör ich jemand brüchig sagen? Pathologisch? Danke Franz!
Von hier aus überlasse ich es Ihnen, Teil dieser sich äußernden Gesellschaft zu sein. Die Anekdote vom Erreichen einer Verabredung durch Morast und Unterholz in einer sternenlosen Nacht, man sah die Hand nicht vor dem Gesicht, lassen sie sich vom Künstler selbst erzählen. Zählen sie Gesichter! Betrachten sie sich gesellig! In einem von Franz Ammanns wunderbaren Selfies. In dem Fall: erlauben Sie sich ein lautes Gebrüll – den letzten Heuler, so sehr wie ich ermutigt mir erlaubte auch in meinem Namen zu schreiben.
Misha Stroj
Franz Amann, Ich Bleibe(n).
Ich bin wie festgebunden und sehe immer Neues im Alten, deshalb vielleicht gehe ich so ungern fort.
(Rober Walser, Geschwister Tanner)
Zwei metallene Texttafeln stehen sich in Franz Amanns Werkgruppe Happy Valley gegenüber: Robert Walsers Beschreibung einer eingeschränkten Reisefreudigkeit wird durch den Bericht von zwei zur Wanderschaft gebrachten Bäumen relativiert. Die Geschichte der Bäume, die Art der Präsentation der Tafeln und auch formale Lösungen der die Installation komplettierenden Malereien sind Sammlung des Malers Reisetätigkeit in China: eine Art Topos der “chinesischen Reise” als erschaffenes Konzentrat. Den Reisenden beeindruckende Details werden zu formalen Mitteln der Konstruktion einer doch eigenen Welt: in Kochtöpfe gegossene Betonsockel, Rollbilder und fantastische keramische Tierköpfe zur Beschwerung und Entfaltung der Malerei. Die Malerei selbst als virtuose Imitation der so oft gesehenen nachlässigen Farbspuren an Hausfassaden und Brückenbögen. Mit verblüffend ökonomischen Mitteln lässt Franz Amann uns die Kette seiner Entscheidungsfindungen nachvollziehen und verrät dennoch nicht die Undurchdringlichkeit seines bevorzugten Materials: die alltäglichen Beziehungen. So führt er Wirklichkeit als Effekt seiner Praxis vor, die Wirklichkeit seiner Bilder, die Wirklichkeit seiner Malerexistenz.
Wie oft bei Amann spielt die Wahl des Bildträgers eine entscheidende Rolle. Was wäre stimmiger als die Stoffrollos seines ausrangierten Ateliers als Reminiszenzen an traditionelle chinesische Rollbilder zu verwenden? Die entscheidende Bewegung in der Bildfindung dieses Malers ist diejenige die rausführt aus vorgesehenen Räumen, auch raus aus dem Atelier. Ich bleibe und werde wohl bleiben schreibt Walser und erinnert an die Unverrückbarkeit von Bäumen. Amanns Funde widerlegen letzteres (im Rahmen eines der berüchtigten großen chinesischen Bauprojekte mußten zwei Bäume ihren Standort wechseln), sie bestätigen aber doch den Kern eines stets ominösen „Ich bleibe“. Der zeitgemäß agierende Künstler scheut nicht die vertraute Umgebung zu verlassen, beharrt aber auf das Auftauchen einer eigensinnigen Autorität. Im Rahmen unvermeidlich nomadischer Lebensform schafft er Werke die Übersetzungsleistungen und Verschiebungen insofern als realistische Optionen vorschlagen, als innerhalb derselben ein distinkter Stil den Übersetzern eine Bleibe verschafft. Die Fragilität und Entschlossenheit der lasierend rinnenden Farbaufträge lässt uns die Intensität und Anwesenheit eines Eindrucks vorstellen der auf geheimnisvolle Transzendenz verzichtet. So entsteht tatsächlich die Gegenwart eines vollständigen Bildes eines wirklich errichteten Reichs: Amanns China, ein Happy Valley (was sinnigerweise einen Friedhof bezeichnet). Dort, draußen, ist vorläufiger Friede zu finden in einem „Ich Bleiben” als legitime Formel des noch möglichen bescheidenen Lebens als KünstlerIn in unübersichtlichen Zeiten. Wer aufs Heimkommen verzichtet…muß auch nicht prahlend sich zeigen.
Im Happy Valley wird das Bild zum Ort der Zusammenführung einer als zerstreut, ja nahezu traumatisierend empfundenen Welt. Es entstand als Produkte der Bewältigung, als Ort überzeugend fiktiv, als Bild dringend wirklich. Ohne Umstände bringts E.E.Cummings auf den Punkt:
somewhere i have never travelled, gladly beyond
any experience, your eyes have their silence:
in your most frail gesture are things which enclose me,
or which i cannot touch because they are too near
(…)
Miras Ropot
Amanns den ganzen Weg nach unten!(2011)
Auf dem Erdboden wirst Du stolpern. [1] Eine mit niemandem geteilte Welt ist keine. Kunst ist eine großzügige Tätigkeit. Es braucht Geduld und die Unterbrechung unserer Vorurteile und Kenntnisse um ihre Ambitionen zu verstehen. Es nimmt auch Zeit in Anspruch zu sehen, wie es Franz Amann gelingt ein Bild herzustellen. Immer auch ein Bild von dem Eigensinn und der Verausgabung die er investiert – in die Sehnsucht und das Angebot seine Welt zu teilen. Er baut einmal mehr an einem Leben des Bildermachers, erfindet sich als Maler neu und verschleiert an keiner Stelle die Endlichkeit, Profanität und Heiterkeit einer solchen Aktivität. Sein Werk weckt die Lust den Begriff der Wahrheit wieder mal nahe ans Unternehmen Kunst zu führen. Stünde es mir zu, ich würde ihm die Gründung eines Realismus von erschütternder Ordnung unterstellen
Es gibt die Anekdote über die alte Dame, die einem Wissenschaftler widerspricht: In ihrer Version ist die Welt flach und ruht auf dem Rücken einer Schildkröte. Ihre überzeugende Antwort auf den Einwand, dass auch die Schildkröte ein Fundament haben muss: Es sind Schildkröten den ganzen Weg nach unten. [2]
Am Gipfel seiner Werke ist Franz Amann Maler. Mit der Schlauheit seiner Empfindungen organisiert er eine relativ flache Welt (Malerei). Er zeigt aber immer auch die scheinbar endlose Reihe von unterstützenden Aspekten und Kräften einer solchen Welt (zuletzt wunderbar arrangierte Bruchstücke eines Atelier-Lebens). Als Realist hält er sich dabei treu an Konstrukte, die das stets zu korrigierende Verständnis von Wirklichkeit dirigieren. Er erarbeitet das große Potential der Kunst: zu zeigen wie sehr eine jede Wirklichkeit stets Ergebnis dieser konstruierten Verständnisse ist. Er strebt dabei nach einem Maximum an Wahrscheinlichkeit in den Resultaten seiner Anstrengungen – seinem Werk [3] Ich habe Lust das Bild von der Säule der sich tragenden Schildkröten zu bemühen, da ich mich vom Künstler geführt sah, entlang den Ereignissen und Fragmenten eines letztlich Ganzen: Es sind Amanns den ganzen Weg nach unten!
Schreiben ist Kämpfen gegen das Gefühl: ein jedes Bild sei falsch. Entlang einer Säule von Werken hinabsteigen …ist falsch wegen einer naiven Vorstellung des Raums. Wir könnten unterstellen, dass Amanns Arbeit auch darauf zielt: das jeweils „Falsche“ im Sehen der doch wahrscheinlichen, vorgestellten und gebauten Wirklichkeiten (jene Irre, in die die Worte uns gerne führen). Er urteilt nicht. Seine Leinwände sind selten rechteckig oder quadratisch. Sie bersten förmlich in ihrem Kampf um eine Ganzheit als Bild und gegen eine vereinfachende Reduzierung ins Symbolische. Tränen. Sterne. Katzen. In Momenten reduzierten Aufwands: ein Handtuch. Ein Besen. Diese Konstellationen sind hybrid und bastardisch. Und dann gibt es Farbe. Mit der Farbe – so schlage ich vor – manipuliert Amann letztlich, in recht ökonomischer Manier, seine eigenen Lösungen. Wir können nicht nur fühlen sondern verstehen wie hier eine Hand an der Arbeit ist, mehr noch ein wissendes Auge, und was noch? Es ereignet sich eines dieser tieferen Verständnisse, die uns lächeln machen: ja, diese Pinselstriche sind mit einer Absicht gemacht. ah, MalerInnen malen.Wir sollten allerdings nicht zu triumphalisch überzeugt sein, den ganzen Willen dieser (flachen?) Welt aufgeklärt zu haben. Wir sollten nicht versäumen, dass hier auch Undurchsichtigkeiten und Anrufungen gefeiert werden. Es ist notwendig zu schreiben: diese Bilder „passieren“ auch außerhalb ihrer Rahmen, in der Leere, den Zwischenräumen (den manchmal geschundenen Fasern einer Welt). Sockelartige Teile erinnern an Akte der Dressur [4] einen Prozess der Zähmung (wenn eine Richtung auszumachen wäre). Oder besser: diese Bilder befinden sich in einer Unentschiedenheit zwischen Fall und Aufstieg, sie schweben. So bleiben sie verbunden mit einem wohl da gewesenen Körper, auch Raum (Atelier, Stadt, etc.). Amann zeigt uns Manifestationen der Unruhe und Entschiedenheit einer Person, die imstande ist die Stimmung der Welt (der einen) -auch ihrer Zeit – auszudrücken.
Wir leben auf schwankenden Grund unter einem leeren Himmel. Überraschenderweise: es wird uns doch eine auch schöne Welt gezeigt. Malen findet bei Amann auch in Gespräch und Spaziergang statt. Er kennt die Grausamkeit der Dinge, ihre Tücke, aber auch ihre Dankbarkeit. Er vermag es – als Künstler – die Dinge lebendig zu machen, sie zum Sprechen zu bringen [5] Wir können die Sternenbilder lesen, wir konnten in den Organen geöffneter Körper lesen. Wir lesen die Bewegungen der Tanzenden. Amann arbeitet nicht spontan, er zeigt die Schönheit und Fragilität des Einstudierten und Wohlüberlegten. Er ist einer der das Seil auch herstellt, und nicht nur darauf tanzt. Eine Säule tanzender Schildkröten? Aber nein. Ein Gefühl für die Aristokratie des einfachen Lebens. Nijinski hatte die Antwort auf die Frage, ob es schwierig sei, in der Luft frei zu schweben:
Nein, nein. Nicht schwierig. Man muß nur hochspringen und oben ein bißchen warten. [6]
Miras Ropot
5
xxy